Der Gang auf dem Seil


Einmal saßen einige Schüler beisammen und der Meister ging an ihnen vorbei, und da sie ihn so nah und vertraut vor sich sahen, redeten sie ihn an: „Sagt uns doch lieber Meister, wie sollen wir dienen?“ Er verwunderte sich und antwortete: „Weiß ich`s denn?“ Doch sogleich fuhr er fort zu erzählen: „Es waren einst zwei Freunde, die wurden eines gemeinsamen Vergehens halber vor dem König angeklagt. Da er sie aber liebte, wollte er ihnen eine Gnade erweisen. Freisprechen konnte er sie nicht, denn auch das königliche Wort besteht nicht gegen die Satzung des Rechts. So sprach er das Urteil, es solle über einem tiefen Abgrund ein Seil gezogen werden, und die zwei Schuldigen sollten es, einer nach dem andern, beschreiten; wer das jenseitige Ufer erreicht, dem sei das Leben geschenkt. Es geschah so, und der eine der Freunde kam ungefährdet hinüber. Der andere stand noch am selben Fleck und schrie: „lieber Freund, sage mir doch, wie hast du es angestellt, um die fürchterliche Tiefe zu überqueren ?“, „Ich weiß nichts“, rief jener zurück, „als dieses eine: wenn es mich auf die eine Seite riß, neigte ich mich auf die andere.“

*Baal Schem Tov

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen