Aspekte unseres Wesens

Sobald wir unser Sein und Dasein mit offenen Augen sehen, erkennen wir, wie es zwei Aspekte unseres Wesens gibt: den trügerischen und den wahren ... Wir halten das wahre Leben für das trügerische und das trügerische für das wahre. H.I.Khan(1882 - 1927)

Die Mahlzeit

»Es kommt gut, wie es kommt; ich muß es
nicht zwingen oder jagen.«
Hadere nicht mit dem Schicksal, denn es wird doch geschickt,
ist wie die Mahlzeit. Nimm die Mahlzeit zu dir, die
für dich vorbereitet worden ist, und verlange nicht immer eine andere.

 

Vom Geben

Einst sagte ein reicher Mann: Sprich uns vom Geben.
Und er antwortete:

Ihr gebt nur wenig, wenn ihr von eurem Besitz gebt.
Erst wenn ihr von euch selber gebt, gebt ihr wahrhaft.
Denn was ist euer Besitz anderes als etwas, das ihr
bewahrt und bewacht aus Angst, daß ihr es morgen
brauchen könntet? Und morgen, was wird das Morgen
dem übervorsichtigen Hund bringen, der Knochen im
spurlosen Sand vergräbt? Und was ist die Angst vor
der Not anderes als Not? Ist nicht Angst vor Durst,
wenn der Brunnen voll ist, der Durst,
der unlöschbar ist?

Es gibt jene, die von dem Vielen, das sie haben,
wenig geben - und sie geben um der Anerkennung
willen, und ihr verborgener Wunsch verdirbt ihre
Gaben. Und es gibt jene, die wenig haben und
alles geben. Das sind die, die an das Leben und
die Fülle des Lebens glauben, und ihr Beutel ist
nie leer. Es gibt jene, die mit Schmerzen geben,
und der Schmerz ist ihre Taufe. Und es gibt jene,
die geben und keinen Schmerz beim Geben kennen:
weder suchen sie Freude dabei, noch geben sie
um der Tugend willen; Sie geben, wie im Tal dort
drüben die Myrte ihren Duft verströmt. Durch ihre
Hände spricht die Natur, und aus ihren Augen
lächelt Sie. Es ist gut zu geben, wenn man gebeten
wird, aber besser ist es, wenn man ungebeten gibt,
aus Verständnis; und für den Freigebigen ist die
Suche nach einem, der empfangen soll, eine größere
Freude als das Geben. Und gibt es etwas, das ihr
zurückhalten werdet? Alles, was ihr habt, wird
eines Tages gegeben werden; Daher gebt jetzt,
daß die Zeit des Gebens eure ist und nicht die
eurer Erben. Ihr sagt oft: „Ich würde geben,
aber nur dem, der es verdient." Die Bäume in
eurem Obstgarten reden nicht so, und auch nicht
die Herden auf euren Weiden. Sie geben, damit
sie leben dürfen, denn zurückhalten heißt
zugrunde gehen.

Sicher ist der, der würdig ist, seine Tage und
Nächte zu erhalten, auch alles anderen von euch
würdig.Und der, der verdient hat, vom Meer des
Lebens zu trinken, verdient auch, seinen Becher
aus eurem Bach zu füllen.Und welcher Verdienst
wäre größer als der Mut und das Vertrauen, ja
auch die Nächstenliebe, die im Empfangen liegt?
Und wer seid ihr, daß die Menschen sich die Brust
zerreißen und ihren Stolz entschleiern sollten,
damit ihr ihren Wert nackt und ihren Stolz
entblößt seht? Seht erst zu, daß ihr selber
verdient, Gebender und ein Werkzeug des Gebens
zu sein. Denn in Wahrheit ist es das Leben, das
dem Leben gibt - während ihr, die ihr euch als
Gebende fühlt, nichts anderes seid als Zeugen.
Und ihr, die ihr empfangt - und ihr seid alle
Empfangende, bürdet euch nicht die Last der
Dankbarkeit auf, damit ihr nicht euch und dem
Gebenden ein Joch auferlegt. Steigt lieber
zusammen mit dem Gebenden auf seinen Gaben
empor wie auf Flügeln; denn seid ihr euch
eurer Schuld zu sehr bewußt, heißt das,
die Freigebigkeit desjenigen zu bezweifeln,
der die großherzige Erde zur Mutter und den
Himmel zum Vater hat.

* Khalil Gibran