In Sachen der Wichtigkeit der Freunde innerhalb der Gruppe und wie man sie wertschätzt, hören wir, wie jeder Einzelne seinen Freund und dessen Wichtigkeit betrachten soll. Der Hausverstand sagt uns: Wenn ein Mensch seinen Freund niedriger als sich selbst einschätzt, will er ihn lehren, sich besser zu verhalten als er es im Moment tut. Infolgedessen kann er nicht sein Freund sein; er kann ihn höchstens als Schüler akzeptieren, aber nicht als Freund.
Doch wenn ein Mensch den Freund auf einer höheren Stufe als der eigenen sieht und erkennt, dass er gute Eigenschaften von ihm lernen kann, kann er diesen als Lehrer akzeptieren, aber nicht als Freund.
Daraus folgt, dass ein Mensch nur, wenn er seinen Freund als gleichwertig empfindet, ihn als Freund akzeptieren und sich mit ihm verbinden kann. Denn Freundschaft herrscht, wenn beide in der gleichen Situation sind. Das verlangt der gesunde Menschenverstand.
Wenn beide gleiche Ansichten haben und sich verbinden, können sie gemeinsam das von beiden ersehnte Ziel in Angriff nehmen.
Das gleicht zwei Freunden, die in ihren Ansichten übereinstimmen und gemeinsam ein Geschäft eröffnen, welches ihnen Gewinn bringen soll. In diesem Fall fühlen sich beide gleichwertig. Wenn jedoch einer glaubt, er sei kompetenter als der andere, wird er den anderen nicht als gleichwertigen Partner akzeptieren, sondern eine Partnerschaft bevorzugen, die je nach Stärke und Qualität, die der eine dem anderen voraus hat, prozentuall aufgeteilt ist. Dann ist es zum Beispiel eine Drittel- oder Viertelbeteiligung und man kann nicht von Gleichwertigkeit sprechen.
Wenn man sich jedoch in der Freundesliebe für die Einheit verbindet, so bedeutet das ausdrücklich, dass die Freunde gleichwertig sind. Nur das wird Einheit genannt.
Im Artikel zum Abschluss des Buches Sohar steht geschrieben: „Das Maß der Größe benötigt zwei Voraussetzungen:
1) Immer zuhören und die Wertschätzung der Gruppe im Ausmaß der Größe der Freunde erhalten.
2) Die Umgebung soll erhaben sein, wie es heißt: ‘In der Vielzahl des Volkes liegt der Ruhm des Königs’”.
Um die erste Bedingung zu erfüllen, muss sich jeder Student als der kleinste unter den Freunden empfinden. Auf diesem Wege kann er von allen die Wertschätzung der Größe erhalten. Ein Großer kann nämlich von einem Kleineren nichts annehmen oder gar von dessen Worten beeindruckt werden; nur der Kleine lässt sich von der Achtung des Größeren beeindrucken.
Und was die zweite Bedingung anbelangt, so ist jeder Student verpflichtet, jeden seiner Freunde zu erheben als wäre er der größte seiner Generation. So wird die Umgebung auf ihn einwirken wie es eine großartige Gruppe tun sollte, weil Qualität wichtiger als Quantität ist.
Daraus folgt, dass man sich in der Freundesliebe gegenseitig hilft und dass es reicht, wenn jeder den Freund als gleichwertig betrachtet. Doch da auch jeder vom Freund lernen soll, kommt das Thema Rav und Schüler ins Spiel. Daher sollte man den Freund größer als sich selbst sehen.
Aber wie kann man den Freund als grösser ansehen, wenn einem erscheint, dass die eigenen Verdienste, Talente und Eigenschaften besser sind? Dies kann man auf zweierlei Arten verstehen:
1) Man geht nach dem Prinzip Glaube über dem Verstand vor: Wenn man einen Freund gewählt hat, muss man bei dessen Wertschätzung Glaube über Verstand walten lassen.
2) Im Verstand ist das natürlicher: Wenn man beschlossen hat, jemanden als Freund anzunehmen und an sich arbeitet, ihn zu lieben, dann ist es natürlich, nur die guten Dinge an ihm zu sehen. Und selbst wenn es schlechte Seiten am Freund gibt, kann man sie nicht sehen, so wie geschrieben steht: “Die Liebe bedeckt alle Sünden”.
Ein Mensch sieht zum Beispiel die Unarten der Kinder des Nachbarn - für die Unarten der eigenen Kinder jedoch ist er blind. Und falls jemand negativ über seine Kinder spricht, dann protestiert er und beginnt, deren Vorzüge hervorzuheben. Und es stellt sich die Frage, wer recht hat. Seine Kinder sind ja artig und daher ist er beleidigt, wenn andere über sie schlecht reden.
Ich hörte das von meinem Vater, Yehuda Ashlag: Jeder Mensch besitzt in Wirklichkeit Vor- und Nachteile, und sowohl der Nachbar als auch der Vater sagen die Wahrheit. Jedoch hat der Nachbar nicht das gleiche Verhältnis zu den Kindern des anderen wie zu den eigenen - er fühlt nicht die gleiche väterliche Liebe zu ihnen.
Deshalb empfindet er, wenn er die Kinder des Nachbarn betrachtet und deren Fehler sieht, mehr Genuss. Denn er kann dadurch zeigen, dass er selbst tugendhafter ist als der andere, weil seine Kinder artiger sind als die Kinder des Nachbarn. Und darum sieht er an den anderen Kindern nur die Fehler; und was er sieht, ist wahr, doch er sieht nur die Dinge, die ihm gefallen.
Auch der Vater sagt die Wahrheit, jedoch schaut er nur auf die guten Seiten seiner Kinder, und die schlechten sieht er nicht, denn diese würden ihm keine Freude bereiten. Deshalb sagt er die Wahrheit darüber, was er bei seinen Kindern sieht. Und da er nur in Betracht zieht, was ihm Freude bereitet, sieht er nur die positiven Seiten.
Daraus folgt: Wenn man Liebe zum Freund empfindet, so besagt das Prinzip der Liebe, dass man gerade die Vorteile und nicht die Nachteile des Freundes sehen will. Und daraus folgt wiederum: Wenn man bei seinem Freund einen Nachteil sieht, so liegt dieser nicht beim Freund, sondern bei einem selbst. Denn man hat keine Liebe zum Freund und sieht deshalb nur die Fehler an ihm.
Darum soll man auch nicht darauf achten, dass der Freund sich korrigiert, sondern erkennen, dass man selbst Korrektur benötigt. Und so muss man sich nicht um die Korrektur des Freundes kümmern, sondern dafür sorgen, dass man den Fehler korrigiert, den man selbst in der Freundesliebe hat. Und wenn man sich korrigiert hat, wird man nur mehr die Vorteile des Freundes und nicht mehr dessen Fehler sehen.
*Rabash (1906 - 1991)
Quelle: www.kabbalah.info/bibliothek
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