Es wird erzählt..


Es wird erzählt, wie ein Liebender durch lange Jahre hindurch unter den Qualen der Trennung von der Geliebten gelitten hatte und vom Feuer des Fernseins verzehrt ward. Durch die Gewalt der Liebe wurde sein Herz der Geduld bar und sein Körper des Lebens müde. Leben ohne sie schien ihm Blendwerk, und die Zeit begann, ihn zu verzehren. Wie viele Tage verbrachte er ruhelos in Sehnsucht nach ihr, und in wie vielen Nächten floh ihn der Schlaf in seinem Schmerz nach ihr. So wurde sein Körper zum Seufzer, und die Wundheit seines Herzens machte ihn zum Wehlaut. Vergebens hätte er tausend Leben verschenkt, um nur einen Tropfen vom Wein ihrer Gegenwart zu kosten; aber es gelang ihm nicht.

Kein Arzt vermochte ihn zu heilen, und seine Nähe wurde von den Freunden gemieden. Ärzte kennen kein Mittel, um Liebe zu heilen, nur die Hand der Geliebten vermag ihm zu helfen. Schließlich trieb der Baum seiner Sehnsucht die Frucht der Verzweiflung, und das Feuer seiner Hoffnung erstarb in der Asche, so daß er eines Abends lebensmüde sein Haus verließ und die Straße hinauszog. Plötzlich gewahrte er, wie ihn eine Nachtwache verfolgte. Er versuchte zu fliehen, doch die Wache eilte ihm nach, und es wurden ihrer viele, so daß ihm am Ende jeder Ausweg verstellt war. Gehetzt schrie er auf, lief ohne Ziel hin und her und stöhnte: »Gewiß ist diese Wache 'Izrá'il, mein Engel des Todes, daß sie sich so eilt, mich zu packen, oder es ist ein Menschenschinder, der nach mir greift.« So kam dieser weidwunde Liebende mit Füßen, die liefen, und einem Herzen, das ächzte, bis an die Mauer eines Gartens, die er mit größter Mühe erklomm. Aber oben angelangt, erkannte er ihre schwindelnde Höhe und stürzte sich, sein Leben nicht achtend, hinab in den Garten.

Doch siehe, welch ein Anblick! Dort war seine Geliebte, eine Lampe in der Hand, einen Ring suchend, den sie verloren hatte. Und als er, der sein Herz verloren, sie, die es ihm geraubt hatte, ansah, entrang sich ihm ein Seufzer der Erlösung, und er rief, die Hände zum Himmel erhoben: »O Gott, gib der Wache Ruhm, Reichtum und langes Leben, denn sicher war sie der Engel Gabriel, der mich geführt hat, oder Isráfil, der Engel des Lebens, der mich, den Gequälten, erquickte.« Dieser Mann hatte recht, denn wieviel Gerechtigkeit und Erbarmen waren in der scheinbaren Grausamkeit jener Wache verborgen! In ihrem Grimm hatte sie den in der Wüste der Liebe Verdurstenden zum Meere der Geliebten geführt und die Finsternis der Trennung durch das Licht des Wiedersehens vertrieben. Sie hatte den Entfernten in den Garten der Nähe und die leidende Seele zum Arzte des Herzens geleitet. Hätte der Liebende im voraus den Ausgang gesehen, so hätte er von Anfang an die Wache gesegnet und für sie gebetet, in ihrer Grausamkeit die Gerechtigkeit erkennend; doch da er das Ende nicht absah, begann er von Anfang an zu klagen und zu weinen. Die Wanderer aber in den Gärten der Erkenntnis sehen das Ende im Beginn und darum den Frieden im Krieg und die Freundlichkeit im Zorn.

*Baha'ullah 1817-1892  (aus: Sieben Täler)

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