Ein großer Wolf verbreitete einst Angst und Schrecken in den Wäldern und Feldern um die Stadt Gubbio, sodaß die Leute es nicht mehr wagten, die Straßen zu benutzen. Denn das Untier tötete nich nur Tiere, sondern auch Menschen. Schließlich entschloß sich der heilige Franziskus, das erscheckende Geschöpf aufzusuchen. Begleitet von vielen Männern und Frauen, die ihm in sicherem Abstand folgten, ging er aus der Stadt. Als er in die Nähe des Waldes kam, sprang ihn der Wolf plötzlich mit weit geöffnetem Rachen an. Franziskus machte jedoch nur ruhig ein Zeichen, und der Wolf legte sich ihm friedlich wie ein Lamm zu Füßen.
"Bruder Wolf", sprach der heilige Franziskus zu ihm, "du hast viel Schaden in diesem Land angerichtet, und du verdienst den Tod wie ein Mörder. Alle Menschen hassen dich. Ich aber würde gerne zwischen dir und meinen Freunden in Gubbio Frieden stiften." Der Wolf senkte seinen Kopf und wedelte mit dem Schwanz. "Bruder Wolf", fuhr Franziskus fort, "ich verspreche dir folgendes: Wenn du mit diesen Leuten Frieden hältst, werden sie freundlich zu dir sein und dich jeden Tag füttern. Wirst du nun also versprechen, ihnen kein Leid mehr anzutun?"
Der Wolf senkte den Kopf sehr tief und legte seine rechte Pfote in die Hand des Heiligen. Auf diese Weise schlossen sie in gegenseitigem Vertrauen einen Pakt miteinander. Dann führte Franziskus den Wolf auf den Marktplatz von Gubbio und wiederholte vor den versammelten Bewohnern, was er eben mit dem Wolf vereinbart hatte, und wieder legte der Wolf seine Pfote in die Hand des Heiligen, zum Zeichen seines guten Benehmens in der Zukunft. Der Wolf lebte noch zwei Jahre in der Stadt und tat nie wieder jemandem ein Leid an. Jeden Tag brachten ihm die Dorfleute sein Futter, und als er dann starb, trauerten alle um ihn.
Wie böse der Wolf auch immer geschienen haben mag, in Wahrheit war eine gute Seite in ihm verborgen, die niemand erkannt hatte, solange, bis der Heilige ihn "Bruder" nannte. In dieser Legende stellt der Wolf zweifellos einen großen Missetäter dar, der von den anderen tief gehaßt wurde. Damit soll gezeigt werden, daß sogar in jenen, die hoffnungslos verloren scheinen, immer noch ein Samen des Guten steckt, der mit ein wenig Liebe zum Sprießen gebracht werden kann.
*Mira Alfassa, Die Mutter, (*1878 -1973)
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