Fariduddin Attar, der etwa um das Jahr 1220 starb, ist einer der
berühmtesten persischen Sufi-Dichter und Mystiker. Im Westen kennt man besonders
sein Werk Manteq ot-teyr (Die Sprache der Vögel), die Geschichte der dreißig
Vögel (si morgh), die am Ende ihrer Pilgerreise ihr Einssein mit dem Göttlichen,
dem Simorgh, entdecken. Dieses Buch ist seither eine zuverlässige Quelle der
Inspiration für mystische Dichter. Attars Meisterwerk ist aber zweifellos Mosibat-nameh
(Das Buch der Prüfung), in welchem erzählt wird von der Initiationsreise einer nach
Einheit strebenden Seele; diese wird durch den Pilger verkörpert. Die folgende Stelle ist
dem Anfang des Gedichts entnommen und beschreibt den Moment, da dem Pilger offenbart wird,
welchen Weg er einschlagen muss, um zu Gott zu gelangen. Jede neue Etappe, die der Pilger
auf seiner innerlichen Reise in Angriff nimmt, wird hervorgehoben durch köstliche
Anekdoten, die reich an geistiger Bedeutung sind.
Der Pilger war außer sich, sprachlos und verblüfft: Er sah hundert Weltalle, Ozeane über Ozeane von brodelnden Wassern; sie alle waren auf der Suche nach Gott, alle hineingerissen in den Sog Gottes. Er siebte die Erde der Welt durch und warf Intelligenz, Zweifel und Aporie beiseite. Er siebte die Erde der Welt hunderttausend Mal durch und legte ebenso viele Male die gewonnene Perle auf die Werkbank nieder. Schließlich erhielt er Hilfe von Gott: Wie er am Sieben war, trat ein Weiser vor ihn hin, eine Sonne, die beide Welten erleuchtete; die auf dem Weg eine Unzahl von Sternen versammelte; in der Welt und außerhalb der Welt, im Zentrum und außerhalb des Zentrums; sesshaft und ständig auf der Reise; unsichtbar und immer gegenwärtig; eine Sonne, welche die beiden Welten mit Licht durchflutete, erschreckt über den eigenen Glanz; eine rote Flamme auf dem Weg; ein riesiges Herz wie der grüne Ozean. Wer aus dem Staub seiner Schritte keinen Khôl macht, der soll verderben, ob er rein sei oder unrein! O Sohn, der Pfad ist lang und voller Fallgruben; der Reisende braucht einen Führer. Wie findet der Blinde sich ohne Stock zurecht? Es gibt keinen Weisen, sagst Du? Bitte, suche wie wild. Denn wenn es auf der Welt keinen einzigen Weisen gäbe, würde sich die Erde erheben, und die Zeit würde stillstehen. – Kurz und gut, als der Pilger den Weisen antraf, den Führer auf dem Weg, warf er sich ihm zu Füßen. Seine Seele überquoll vor lauter Freude; aus tiefster Überzeugung befestigte er den Ring der Knechtschaft an seinem Ohr. Hunderttausend Rosenknospen entfalteten sich im Rosengarten seines Herzens. Die Gnade brachte ihm Verzückung, die Gottlosigkeit wich, der Weg öffnete sich.
Der Weise sagte zu ihm:
Wegelagerer auf dem Weg lauern im Hinterhalt; schlafe nicht ein, tue, was dir gesagt worden ist. Der Pfad ist lang; Sohn, sei wachsam! Spar den Schlaf bis zum Grab auf, halt Wache! Jedem ist eine Aufgabe zugewiesen; viele haben solche Qualen durchgemacht. Hüte dich davor, dich auf dieser langen Reise durch ein Nichts aufhalten zu lassen. Da, wo du stillstehst, wirst du kraftlos für immer bleiben. Zerrissenheit und ein Brennen in deiner Brust sollen dir Befehle sein; in deiner Seele soll dieses Echo des Korans wie die Nachtigall singen. Gehe unbeirrt vorwärts, strenge dich an, sei wachsam! Trage die Bürde, iss den Dorn, spitze die Ohren.
Der Pilger entbrannte wie ein von Leidenschaft gepackter Liebhaber. Er entledigte sich der Überschwänglichkeit und der Melancholie und tauchte nackt in den Ozean. Er gab Klagen und Dankbarkeit auf und machte sich auf den endlosen Weg.
*(Quelle: Le livre de l’épreuve (Das Buch der Prüfung) von Fariduddin Attar. Übersetzt aus dem Persischen von Isabelle de Gastines. Editions Fayard, Paris, 1981.)