Die wahre Erkenntnis besteht darin, dass man jene Wahrheiten vom Gehäuse unterscheiden lernt.

Das Herz gleicht einem Wasserbecken und die fünf sinne fünf Bächen, durch die das Wasser sich von aussen in das Becken ergiesst. Wenn du willst, dass das klare Wasser aus dem Grunde des Beckens emporquellen soll, so musst du jenes Wasser ganz daraus entfernen und all den schwarzen Schlamm, den es mitgeführt hat, heraustun und all die Bäche verstopfen, so dass durch sie kein Wasser mehr hineinkommt und dann den Grund des Beckens aufgraben, damit das reine klare Wasser aus dem Inneren des Beckens emporquillt. Solange aber das Becken mit dem Wasser, das von aussen kam, angefüllt ist, ist es unmöglich, dass das Wasser aus dem Inneren aufquillt.

So kann auch jenes Wissen, das aus dem Inneren des Herzens aufsteigen soll, nicht aufquellen, solange das Herz nicht frei ist von allem, was von aussen hereingekommen ist.
 

Wenn aber ein Gelehrter sich von allem angelernten Wissen frei macht und sein Herz nicht dadurch gefangen sein lässt, so wird ihm das frühere Wissen nicht zu einer Scheidewand.

Wenn sich im Menschen jedoch etwas anderes regt, und sagt: "Das widerspricht dem, was ich gehört oder gelesen habe, und alles, was dem widerspricht, ist falsch", so ist es unmöglich, dass einem solchen Menschen die Wahrheit der Dinge offenbar werde.

Denn wer oder was außer die eigene Erfahrung und tiefempfundene Erkenntnis, eröffnet dir, das die Interpretation dessen was du gelesen oder gehört hast, tatsächlich der Wirklichkeit oder Wahrheit entspricht ?


Jene Glaubenssätze, die das gemeine Volk lernt, sind nur das Gehäuse für die Wahrheit, nicht die Wahrheit selbst.

Die wahre Erkenntnis besteht darin, dass man jene Wahrheiten von dem Gehäuse unterscheiden lernt, so wie das innere Mark von der umgebenden Haut. 


*Abu Hamid al-Ghazâlî, (1058 - 1112)

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