Wer sucht, der findet

Der alte Rabbi ist beim Talmudstudium unterbrochen worden. Als er ins Zimmer zurückkommt, will er sich wieder seiner Lektüre widmen. Nachdem er sich an den Schreibtisch gesetzt hat, tastet er nach seiner Brille, die aber nicht wie gewohnt im Buch liegt... Er fängt an, nach den Regeln der talmudischen Lehre nachzudenken: Jeden Tag trage ich beim Lesen die Brille, und wenn ich aufhöre, lege ich die Brille ins Buch. Wenn ich das täglich tue, habe ich es auch heute getan. Wenn ich es aber getan habe, muß die Brille im Buch liegen. Sie liegt aber nicht drin. Sie liegt nicht drin, das heißt, sie ist weg. Meine Brille ist weg. Von allein kann sie nicht weg sein. Also muß sie jemand genommen haben.

Wer kann die Brille genommen haben? Wenn sie jemand weggenommen hat, dann entweder jemand, der eine Brille hat, oder jemand, der keine Brille hat. Wenn einer schon eine Brille hat, dann nimmt er doch keine Brille mehr. Wenn es also je- mand gewesen ist, der keine Brille hat, dann ist es entweder je- mand gewesen, der keine Brille hat und sieht, oder jemand, der keine Brille hat und nichts sieht. Wenn er keine Brille hat und sieht, dann braucht er auch keine Brille. Es ist also jemand ge- wesen, der keine Brille hat und nichts sieht. Aber wenn er keine Brille hat und nichts sieht, dann kann er die Brille ja gar nicht sehen. Da sie keiner weggenommen hat, der eine Brille hat, weil der braucht keine mehr, und da aber der, der keine Brille hat, ent- weder sehen kann, und dann braucht er keine Brille, oder nicht sehen kann, dann kann er aber auch die Brille nicht sehen, und die Brille aber auch nicht weggelaufen sein kann, muß sie noch da sein! Ich sehe sie aber nirgends. Wo ist sie nur? Auf dem Tisch liegt sie nicht, auf der Kommode nicht, auf dem Bett...

Moment mal, woher weiß ich eigentlich, daß sie nirgends liegt? Weil ich es sehe. Ich sehe? Ohne Brille kann ich doch gar nicht sehen! Also hab ich doch eine Brille auf. Entweder ist das jetzt eine fremde Brille oder meine eigene. Da es aber ausge- schlossen ist, daß ich eine fremde Brille auf der Nase habe, ist es meine Brille - richtig, da ist sie ja!

Der Rabbi beendet damit seine Analyse und sagt dankbar: »Gesegnet sei der Allmächtige, der mir die Möglichkeit gab, die Weisheit des Talmud zu beherrschen, durch die ich meine Brille wiederfinden konnte.«

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