Der Baum und der Vogel

Vielerlei Menschen standen unter einem hohen Baum. Und einer von den Menschen hatte Augen zu sehen. Er sah: im Wipfel des Baums stand ein Vogel, herrlich in wesenhafter Schönheit. Die anderen sahen den Vogel nicht. Über jenen Mann aber fiel ein großes Bangen, zu dem Vogel zu kommen und ihn zu nehmen, er konnte nicht von dannen ohne den Vogel. Wegen der Höhe des Baums war es jedoch nicht in seinem Vermögen, und auch eine Leiter war nicht da. Weil aber sein Bangen so übermächtig war, fand seine Seele sich den Rat. Er nahm die Menschen, die umherstanden, und stellte sie aufeinander, jeden auf die Schultern eines Gefährten. Er aber stieg zuoberst, so daß er zum Vogel kam, und nahm ihn. Die Menschen, wiewohl sie dem einen geholfen hatten, wußten nichts von dem Vogel und sahen ihn nicht. Er aber, der von ihm wußte und ihn sah, hätte ohne sie nicht zu ihm kommen können. Würde jedoch der unterste von ihnen seinen Ort verlassen, dann müßte der oben zur Dunklen Nacht der Erde niederfallen.

So wird von einem Zaddik erzählt, er sei beim Beten der Gemeinde eine lange Zeit stumm und ohne Bewegung dagestanden und habe dann erst selbst zu beten begonnen; sein Wort sei ein Gewand gewesen, in dessen Falten hätten sich die niedergehaltenen Gebete geschmiegt und seien emporgetragen worden. Dieser Zaddik pflegte vor dem Beten zu sagen: „ Ich binde mich mit allen die zur Einheit streben, mit denen, die größer sind als ich, das durch sie mein Gedanke aufsteige, und mit denen, die kleiner sind als ich, daß sie durch mich gehoben werden.“

Dies ist das Geheimnis der Gemeinschaft, daß nicht bloß der Niedere des Höheren bedarf, sondern auch der Hohe des Niederen.

* Aus "Martin Buber - Die Legende des BaalSchem" (Manesse Bibliothek der Weltliteratur)

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